Goyo, du bist zum ersten Mal in Zürich zu Gast. Was ist das für ein Stück, das du für Kreationen, den neuen Abend des Junior Balletts, kreierst?
Wie der Titel Submerge vermuten lässt, führt das Stück in die Welt des Tauchens. Ich habe mir in diesem Sommer einen Traum erfüllt und einen Tauchkurs auf Formentera absolviert. Das war eine unvergessliche Erfahrung. Von jeher haben mich Taucher mit ihren sonnengegerbten Gesichtern und ihren eindrucksvollen Ausrüstungen beeindruckt. Ich war überrascht, wie viel Vorbereitung man braucht, ehe man wirklich in die Tiefe gehen kann. Da gilt es, Gesundheitstests zu absolvieren und spezielle Atemtechniken zu erlernen, damit man dem buchstäblichen Druck des Ozeans standhalten kann. Eine grosse Inspiration für mich war Luc Bessons Le grand bleu. Der Kultfilm aus dem Jahr 1988 ist ein einziger Rausch, der die Faszination des Meeres beschwört und das Tiefseetauchen in magische Bilder fasst. Jaques, einer der beiden Haupthelden, fühlt sich in der Stille der Unterwasserwelt deutlich mehr zu Hause als an Land und vereinigt sich dann in letzter Konsequenz auch mit dem Meer. Bei dem Versuch, das Tauchen in einer Choreografie zu verarbeiten, hat mich vor allem der Gedanke an das veränderte Zeitempfinden unter Wasser beschäftigt. Fünfundvierzig Minuten fühlen sich an wie mehrere Stunden, das habe ich selbst erfahren. Davon ausgehend, möchte ich auch die Tänzer an einen Punkt führen, an dem sie Zeit anders empfinden.
Wie gelingt dir das?
Bei einem Tauchgang durchläuft man verschiedene Schichten von Zeit und Tiefe. Besonders in dem Moment, in dem man den Meeresgrund erreicht hat, empfindet man sehr stark, dass man in einer anderen Dimension angekommen ist. Man hat das Gefühl, zu den Tiefen des eigenen Ichs vorzudringen und dessen Grenzen zu überschreiten. Man erreicht ein neues Level der Selbstreflexion. Diese Erfahrung greift das zwanzigminütige Stück auf. Die Tänzer durchqueren vier verschiedene Ebenen, in denen sie das Verhältnis von Gruppendynamik und Individualität für sich immer wieder neu definieren müssen. Manchmal verlieren sie sich in den unterschiedlichen Zeitschichten und müssen wieder zueinander finden, um das gemeinsame Ziel zu erreichen.
Die Musik zu Submerge stammt vom kanadischen Soundkünstler Owen Belton, den unser Publikum unlängst bei Crystal Pites Emergence kennenlernen konnte. Wie gestaltet sich eure Zusammenarbeit?
Owen habe ich zum ersten Mal getroffen, als wir ein Stück von Crystal Pite nach Nürnberg brachten. Seine Musik speist sich aus den unterschiedlichsten Quellen – Klassik, zeitgenössische Musik, elektronische Musik, Folk … Es ist ähnlich wie bei Crystal Pites Choreografien: Man erkennt seine Handschrift sofort, aber er ist immer anders. Inzwischen arbeiten wir regelmässig zusammen. In Nürnberg haben wir u.a. einen weit vom spanischen Klischee entfernten Don Quichote und Latent, ein Tanztheaterstück über Schizophrenie, herausgebracht. Owens Musik hat eine grosse Kraft. Als Choreografen fordert sie mich heraus, Visualisierungen zu finden, und führt mich immer wieder in Richtungen, die ich allein vielleicht nicht eingeschlagen hätte. Dabei ist unsere Kommunikation etwas wirklich Besonderes, weil sie fast ausschliesslich in Form von Emails stattfindet.
Seit 2008 bist du Direktor des Balletts am Staatstheater Nürnberg, das unter deiner Leitung weit über Bayern hinaus bekannt geworden ist. Was ist das für eine Compagnie?
In diesem Ensemble habe ich Tänzerinnen und Tänzer versammelt, die meine Vision als Choreograf teilen. Das Brennen für eine Sache und die Fähigkeit, sich mit Hingabe einem Stück zu widmen, finde ich enorm wichtig. Unser Repertoire ist ein anspruchsvoller Mix aus abstraktem Tanz, Tanztheater und grossen Klassikern des Handlungsballetts. Natürlich choreografiere ich sehr viel selbst, demnächst zum Beispiel einen Sommernachtstraum. Darüber hinaus konnte ich viele Choreografen, die mich inspiriert haben, davon überzeugen, nach Nürnberg zu kommen, so u.a. Crystal Pite, Mats Ek oder Hofesh Shechter.
Wie ist der Kontakt zum Ballett Zürich entstanden?
Schon lange bin ich mit Christian Spuck befreundet. Wir kennen uns aus seiner Zeit als Hauschoreograf beim Stuttgarter Ballett. Mit grossem Interesse habe ich seinen Weg verfolgt und war sehr glücklich, als wir sein Ballett das siebte blau in Nürnberg aufführen konnten. Christian hatte mich schon lange eingeladen, mit dem Junior Ballett zu arbeiten. Mir war es wichtig, mich hier mit einer Neukreation und nicht mit einem bereits existierenden Stück vorstellen zu können. Die Arbeit mit anderen Compagnien ist für einen Choreografen ja immer eine besondere Inspiration.
Als Tänzer hat du u.a. an der Deutschen Oper Berlin, beim Leipziger Ballett und beim Royal Ballet of Flanders getanzt. Wie haben sich diese tänzerischen Erfahrungen auf deine choreografische Sprache ausgewirkt?
Von meiner Ausbildung in Madrid und Kuba her bin ich ein klassischer Tänzer. Erst in Berlin bin ich mit dem modernen Tanz in Berührung gekommen und habe dort mit einigen der wichtigsten Choreografen des 20. Jahrhunderts gearbeitet, u.a. mit Jiří Kylián und William Forsythe. Damals habe ich meinen eigenen Körper noch einmal völlig neu entdeckt und viele moderne Tanztechniken erlernt. Heute vermischen sich in meinen Arbeiten beide Einflüsse. Ich versuche da, eine zeitgenössische Körperlichkeit mit Elementen des klassischen Balletts zu verbinden. Grossen Einfluss auf mich hatte die Arbeit mit Uwe Scholz in Leipzig. Er war ein genialer Choreograf, der seine eigene Empfindsamkeit und Fragilität in einzigartiger Weise auf seine Stücke übertragen hat. Darüber hinaus sind es immer wieder Einflüsse aus Kunst, Film und Literatur, die mich inspirieren. Als Choreograf ist man ein Schmelztiegel, in dem viele unterschiedliche Zutaten zusammenkommen.
Was macht den idealen Tänzer, die ideale Tänzerin für dich aus?
Mir ist wichtig, dass Tänzer sich nicht allein über ihre Körperlichkeit definieren. Technische Meisterschaft und Musikalität sind zwar wichtige Grundvoraussetzungen, doch ebenso bedeutsam ist die mentale und physische Wandlungsfähigkeit. Nur wenn sich Tänzer über die Jahre ihre Neugier und Offenheit bewahren, können sie ihre Rolle als kreatives Instrument des Choreografen wirklich ausfüllen. In Nürnberg erlebe ich immer wieder auf sehr beglückende Weise, wie die Tänzer den Blick auf mein Werk verändern und bereichern.
In Zürich arbeitest du mit dem Junior Ballett. Das sind junge Tänzerinnen und Tänzer, die ganz am Anfang ihrer Laufbahn stehen. Inwiefern beeinflusst das deine Arbeitsweise?
Die Arbeit mit jungen Tänzern liegt mir sehr am Herzen. Seit einigen Jahren choreografiere ich regelmässig beim Prix de Lausanne und arbeite dort mit den besten Absolventen der internationalen Ballettschulen zusammen. Erst letztes Jahr haben wir dort in nur zehn Tagen ein zehnminütiges Stück mit fünfzig Junioren kreiert, das war eine tolle Erfahrung. Bei jungen Tänzern spürt man diesen unbändigen Drang, sich dem Publikum zu präsentieren. Ihr geradezu unstillbarer Hunger auf Neues verleiht ihnen eine ganz eigene Energie, die das Arbeiten zu einem grossen Vergnügen macht. Das erlebe ich auch hier in Zürich auf wunderbare Weise. In der Art des Umgangs behandle ich die Tänzerinnen und Tänzer nicht anders als gestandene Profis. Diesen Respekt bin ich ihnen schuldig.
Das Gespräch führte Michael Küster.
Foto von Ludwig Olah.
Dieser Artikel ist erschienen in MAG 62, Oktober 2018.
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