Atonement

Ballett von Cathy Marston
Nach dem gleichnamigen Roman von Ian McEwan
Musik von Laura Rossi

  • Dauer:
    ca. 2 Std. 25 Min. Inkl. Pause nach ca. 50 Min.
  • Weitere Informationen:
    Werkeinführung jeweils 45 Min. vor Vorstellungsbeginn.
    Koproduktion mit dem Joffrey Ballet, Chicago

Besetzung

Die Besetzungen für diesen Termin werden zu einem späteren Zeitpunkt bekannt gegeben.

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Pressestimmen

Pressestimmen

«Eine Tanzschöpfung mit viel Erfindungsgeist und grosser Empathie für die Figuren»
Aargauer Zeitung, 29.04.24

«Hinreissend ausstrahlungsreiches Ensemble»
SRF, 26.04.24

«Ein stimmungsvolles, emotionales, mit vielen originellen Details ausgestattetes Handlungsballett»
Tanznetz, 29.04.24

«Cathy Marstons Ballettfassung von Atonement überzeugt»
NZZ, 30.04.24



Ich sage es mal so


Gut zu wissen

Tanz im Kopf der Leserin

Interview

Cathy, als Choreografin eilt dir der Ruf einer Geschichtenerzählerin voraus. Anspruchsvollste literarische Vorlagen wie Jane Eyre, Gefährliche Liebschaften oder Von Mäusen und Menschen hast du für die Ballettbühne erschlossen. Wann weisst du, dass sich eine Geschichte für eine Ballett-Adaption eignet?
Tatsächlich spüre ich schon beim ersten Lesen, ob eine Buchvorlage über erzählerisches Potenzial für den Tanz verfügt. Nicht, dass sofort Ballettbilder entstehen würden, aber ich fühle es körperlich und emotional. Es muss einen Raum zwischen dem Gesagten und der Emotionalität geben, die es auslöst. In Jane Eyre ist das z. B. die Szene, in der Rochester von Jane aus seinem brennenden Bett gerettet wird. Da weiss ich sofort, dass ich mit Tanz einen Zugang in diesen Raum finden kann. Und auch in Ian McEwans Atonement gab es immer wieder solche Momente.

Woher kommt deine Begeisterung für die Literatur, und wie hat sie sich über die Jahre entwickelt?
Meine Eltern waren Englischlehrer. Als Kind haben sie mir viele Geschichten vorgelesen und mich selbst zum Lesen animiert. Wir sind viel ins Theater gegangen, und schon früh haben mich erzählerische Ballette fasziniert. Swansong von Christopher Bruce war so ein Stück. Drei Menschen und ein Stuhl sind da in einer nervenzerreibenden Verhörszene zusammengespannt. Aber auch Kenneth MacMillans Romeo und Julia, Frederick Ashtons Marguerite and Armand oder Mats Eks Carmen waren prägende Eindrücke für mich. Neben den Geschichten als solchen hat mich immer sofort der Prozess der choreografischen Transformation interessiert. Wie kann ich eine Geschichte in Tanz verwandeln?

Atonement nach dem berühmten Buch von Ian McEwan ist dein erstes Handlungsballett, das du als neue Direktorin des Balletts Zürich für deine Compagnie kreierst. Warum ist deine Wahl auf Ian McEwans Roman gefallen?
Mein Engagement als Ballettdirektorin war ursprünglich befristet und ohne eine längerfristige Perspektive gedacht. Ich habe mich also gefragt, was ich in einem Zeitraum von zwei Jahren mit dem Ballett Zürich bewegen könnte. Ich erinnerte mich an ein Projekt, das ich schon seit Jahren an einem sehr guten Haus mit herausragenden Tänzerinnen und Tänzern realisieren wollte. Der Moment für Atonement schien gekommen. Für manche Dinge muss man zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein. Umso schöner, dass Atonement nun kein Einzelprojekt mit dem Ballett Zürich bleiben wird.

Ian McEwan thematisiert in seinem Roman das Verhältnis von Fiktion und Leben, Kunst und Realität. Ist das das richtige Thema für ein Ballett?
Die sehr dünne Membran zwischen Realität und Fiktion, zwischen dem eigenen Selbst und dem, was man kreiert, ist ein grosses Thema im künstlerischen Schaffensprozess. Wenn ich eine Geschichte erzählen will, ist meine Person in diesem Zusammenhang eigentlich völlig nebensächlich. Trotzdem bin ich aufs Engste mit der Geschichte verwoben. Das Thema beschäftigt mich also jeden Tag.

Ian McEwan zeigt das in seinem Buch am Beispiel seiner Hauptfigur, der Schriftstellerin Briony Tallis, die für die Geschichte in ihrem Roman unablässig ganz subjektive Entscheidungen fällt: Welchen Elementen des Geschehens widmet sie besondere Aufmerksamkeit, welche Schlüsse lassen ihre Entscheidungen beim Leser zu, in welchem Licht erscheint sie angesichts des Erzählten als Autorin? Bei einer Ballettadaption musst du dich auch mit genau diesen Fragen auseinandersetzen…
Seitdem ich in der Schweiz lebe, hat sich mein Gefühl für «Romantreue» sehr verändert und hat nichts mit dem reinen Nacherzählen einer literarischen Vorlage zu tun, bei dem man sich irgendwie von einer Episode zur nächsten hangelt. Ian McEwan erzählt in Atonement die Geschichte einer Schriftstellerin. In meiner Adaption wird Briony Tallis zur Choreografin, aber das ist keine so radikale Umdeutung, wie man vielleicht denken könnte. Für mich haben Schreiben und Choreografieren sehr viel miteinander zu tun. Es sind ähnliche Akte, nur, dass nun Bewegungen und Schritte an die Stelle der Worte treten. Was die zeitliche Verankerung des Ganzen, das Handlungsgeflecht und die Personenkonstellation angeht, sind mein langjähriger Mitarbeiter Edward Kemp und ich in unserem Szenarium sehr dicht am Original der Vorlage geblieben.

Briony Tallis lernen wir bei Ian McEwan als pubertierende Möchtegern-Schriftstellerin kennen und begegnen ihr am Ende als erfolgreiche, preisgekrönte Autorin wieder. Du hast es schon angedeutet: Eine Schriftstellerin auf der Ballettbühne ist ein gewagtes Unterfangen, zumal ja auch der Akt des Schreibens an sich ein grundlegender Kernbestandteil des Buches ist. Wie verhältst du dich dazu?
Bereits in meinem Ballett Gefährliche Liebschaften musste ich mich mit der Problematik des Schreibens auseinandersetzen. Im Fall von Atonement erschien es mir logisch, den wesentlichen Aspekt von Brionys Persönlichkeit in den Mittelpunkt zu stellen: Sie ist eine Geschichtenerzählerin. Sie imaginiert Welten, genau wie ich es als Choreografin tue. Warum lasse ich sie also nicht mit der Sprache sprechen, die wir in unserem Körper haben? Da McEwans Roman so historisch genau ist, musste ich allerdings überprüfen, ob diese Umdeutung plausibel und historisch unterfüttert werden kann.

Und was ist bei deinen Recherchen herausgekommen?
Ich bin auf Gillian Lynne gestossen. 1926 geboren, also etwa im gleichen Alter wie Briony Tallis im Buch, war sie Tänzerin im Vic­-Wells Ballet, das im heutigen Sadler’s Wells Theatre, dem wichtigsten Tanzhaus in London, beheimatet war. Später tanzte Gillian Lynne auch im Royal Ballet. Man muss sich das vorstellen: Eine Tanzkarriere im Zweiten Weltkrieg! Tatsächlich gibt es Fotos aus dieser Zeit, auf denen man Ballerinas im Tutu und mit aufgesetzten Gasmasken sieht. Gillian Lynn ist später Choreografin geworden und hat für die Royal Shakespeare Company, das Royal Ballet und viele Produktionen im West End wie Cats oder The Phantom of the Opera choreografiert. Besonders bewegend für mich war ihr Ballett A Simple Man, das 1987 für das Northern Ballet entstanden ist. Gillian Lynne hätte durchaus ein Stück über ihr eigenes Leben choreografieren können. Für mich war das die Legitimation, Briony in meinem Ballett als Choreografin auftreten zu lassen.

Die Handlung des Romans erstreckt sich über den Zeitraum von etwa siebzig Jahren, Mitte der 30er- bis Ende der 90er-Jahre des 20. Jahrhunderts. Das waren Jahrzehnte einschneidender gesellschaftlicher Veränderungen. Ian McEwan erzählt das als eine intime Geschichte vor dem Hintergrund des Weltgeschehens, und wir werden Zeugen, wie eine solch epische Kulisse mit den Kleinigkeiten des Lebens der Menschen interagiert. Wie wirst du diesem historischen Panorama in deinem Ballett gerecht?
In einer meiner Lieblingsszenen im Buch stellt Briony die hölzernen Miniaturspielzeugtiere in ihrem Kinderzimmer so auf, dass sie alle in ihre Richtung schauen. Das Buch beginnt in dieser Kinderzimmerperspektive und eröffnet wenig später die epische Kulisse für die weltverändernden Geschehnisse im Zweiten Weltkrieg. Unser Ballett ist ähnlich strukturiert. Der erste Akt ist kammerspielartig angelegt, die Tänzerinnen und Tänzer tragen Rollennamen, es gibt kein Corps de ballet. Alles, was hier verhandelt wird, muss bis in die kleinste Geste klar und erkennbar sein. Es gibt fast keine Abstraktion. Beinahe hat man den Eindruck eines Theaterstücks, das in der Abgeschiedenheit eines englischen Landsitzes in einer hermetisch abgeschlossenen Welt spielt. Michael Levine, unser Bühnenbildner, hat sich dafür von der Tapetenlandschaft in einer berühmten Amsterdamer Puppenhaus­-Sammlung inspirieren lassen. Eine kostbare, fast idyllische Welt inmitten einer gepflegten englischen Gartenlandschaft. Der zweite Akt, der während des Zweiten Weltkrieges spielt, bringt dann die britischen Truppen, die Kriegsgefangenen und die Krankenschwestern in London auf die Bühne. Das sind grosse Aufgaben für die Mitglieder des Corps de ballet. So übersetzen wir die Massstäbe, die Ian McEwan in seinem Roman vorgibt, und das ist der Hintergrund, vor dem sich Briony als Choreografin entwickelt.

Das Klassensystem im England der 1930er-Jahre ist bei Ian McEwan ein grosses Thema.
Auch wenn der Zweite Weltkrieg dieses System ins Wanken gebracht hat und wir heute mit einer ganz anderen Art sozialer Mobilität konfrontiert sind, kann man die Auswirkungen in Grossbritannien bis heute spüren. Ich bin immer wieder erstaunt, wenn ich nach Amerika oder Australien reise, wie unterschiedlich diese Gesellschaften funktionieren. Und das, obwohl wir die gleiche Sprache sprechen. Bei Ian McEwan sind es Cecilia und Robbie, die die Auswirkungen dieses Klassensystems am eigenen Leib erfahren. Die beiden geniessen die gleiche Ausbildung, leben auf dem gleichen Grundstück, und doch gibt es zwischen den beiden diese unausgesprochene Kluft: Robbie ist und bleibt der Sohn der Putzfrau, mit dem sich die Tochter aus vornehmem Haus lieber nicht einlassen sollte. Mit einer tänzerischen Umsetzung lässt sich das Phänomen gut erfassen. Wie so oft lassen sich diese unausgesprochenen Dinge eher in subtilen Handlungen und Körpersprache ausdrücken.

Indem sie den Freund ihrer Schwester Cecilia fälschlich einer Vergewaltigung beschuldigt und ihn damit ins Gefängnis bringt, lädt Briony Tallis schwere Schuld auf sich. Sie zerstört nicht nur das Leben von Cecilia und Robbie, auch sie selbst wird an dieser Verfehlung ein Leben lang zu tragen haben. Wie viel Verständnis hast du für die pubertierende Briony, bei der Realität und Fiktion, Erlebtes und Erfundenes mit so tragischen Folgen ineinanderfliessen?
Lange vor Ian McEwans Atonement hat mich ein Buch von L.P. Hartley in seinen Bann gezogen. Es heisst The Go-Between und ist die Geschichte eines Jungen, der seine Schwester mit einem Mann beim Sex überrascht. Ganz ähnlich wie Briony, die Cecilia und Robbie in der Bibliothek beobachtet. In beiden Fällen ist es eine ambivalente Erfahrung: Das Verlockende ist das Abstossende, das man um keinen Preis wissen will. Die Verwirrungen, die den Prozess des Erwachsenwerdens begleiten, sind ein faszinierendes Thema. Allzu oft machen wir uns absolut keine Vorstellung davon, wie sich die Erwachsenenwelt aus kindlicher Perspektive darstellt. Wir alle erleben den Übergang von der Kindheit zum Erwachsensein. Aber wie und auf welche Weise öffnet sich diese Tür? Das kann sanft, abrupt oder womöglich auch gewalttätig geschehen, mit unabsehbaren Folgen für unsere Psyche. Wer entscheidet über Schuld oder Unschuld eines Kindes, ab wann müssen wir die Verantwortung für unser Handeln übernehmen? Das habe ich mich bei Briony gefragt und komme gerade jetzt, während der Arbeit an der Choreografie, jeden Tag zu einer anderen Antwort. Ganz anders stellt sich die Frage, wenn ich Brionys Handeln als gereifte Künstlerin betrachte. Wie sie in ihren Kreationen geradezu gottgleich agiert und die Welt so gestaltet, wie sie sie haben willen. Auch in dem Bemühen, eigene Schuld zu relativieren und sich so vielleicht für einen Moment etwas besser zu fühlen. Als kreative Künstlerin kann ich mich aber auch selbst von dieser Art Schuld nicht völlig freimachen.

Wie ernst ist es Briony Tallis mit ihrem Wunsch nach Abbitte, Sühne, und Wiedergutmachung?
Sie weiss natürlich, dass sie etwas Unverzeihliches getan hat und dafür irgendeine Form der Busse finden muss. Aber Demut ist ihr fremd. Sie meint, ihrer Schuld mit einem kreativen Akt beikommen zu können. Mehr Egozentrik ist kaum möglich. Aber von der Realität des Jahres 2024 sind wird da nicht allzu weit entfernt. In den sozialen Medien werden wir heute jeden Tag Zeugen unglaublicher Selbstdarstellungen, in denen vermeintlich gelebtes Leben zur wirksamen Fotostory gerinnt.

Damit sind wir natürlich mitten in den grossen Themen von Ian McEwans Roman: Was ist das Leben? Das Leben an sich oder die Geschichte, die wir davon erzählen? Ist Schreiben ein Akt der Selbstberuhigung, bei dem ich die Macht habe, mit meinen Figuren das zu machen, was ich möchte? Für Briony gibt es keinen Gott, kein höheres Wesen, keine Institution, vor der sie sich verantworten müsste. Und niemanden, der ihr Absolution erteilen könnte…
Für mich stellt sich jetzt, wo ich das Ende des Balletts choreografiere, immer wieder die Frage, ob sich Briony tatsächlich wünscht, dass alles vorbei wäre. Kann eine Umarmung von Robbie und Cecilia ihr die Gewissheit verleihen, dass die beiden ihr verzeihen? Oder gefällt sie sich nicht viel mehr in der Rolle der Märtyrerin, der Aussenseiterin, der Unverstandenen? Vielleicht hat ja gerade auch das für sie eine gewisse Poesie.

Du hast von deinen eigenen Zweifeln als Künstlerin, als Choreografin, als Geschichtenerzählerin gesprochen. Wie lebst du damit?
In der Vergangenheit habe ich nicht nur fiktionale Stoffe auf die Bühne gebracht, sondern mich mehrfach auch mit Biografien real existierender Personen wie Queen Victoria, Jacqueline du Pré oder demnächst auch Clara Schumann beschäftigt. Natürlich versuche ich mich in die Lage dieser Personen hineinzuversetzen und sie zu verstehen. Geschichten lassen sich aus vielen Blickwinkeln erzählen. Deshalb ist die Wahl der richtigen Perspektive jedes Mal eine grosse Entscheidung. Diese immense Verantwortung versuche ich mir immer wieder bewusst zu machen.

Die Musik zu Atonement hat die englische Komponistin Laura Rossi komponiert. Warum war sie die Richtige, die Musik für dieses Ballett zu schreiben?
Wenn ich ein Handlungsballett choreografiere, steht für mich erst einmal die Geschichte im Vordergrund und nicht die Musik. Der Arbeitsprozess beginnt mit der Entwicklung eines Szenariums, eines Librettos. Die passende Musik dazu lässt sich nicht einfach aus dem CD-­Regal ziehen, sie soll sich passgenau mit der Geschichte und der Choreografie verbinden. Atonement ist nicht nur eine Zeitreise durch 70 Jahre, sondern auch eine emotionale Tour de force. Von der Dauer einer anderthalbstündigen Choreografie ganz abgesehen. Deshalb habe ich mich bei Filmkomponisten umgesehen und bin auf Laura Rossi gestossen, die nicht nur für die Leinwand, sondern auch für den Konzertsaal schreibt. Ihre Musik zu dem berühmten Film The Battle of the Somme hat meine Aufmerksamkeit geweckt. Der Film wurde in ganz Grossbritannien mit Lauras Musik gezeigt, die von verschiedenen Orchestern live musiziert wurde. Begeistert hat mich vor allem, wie Lauras Musik in einen Dialog mit den Bildern tritt und eine erzählende Rolle übernimmt. Aber auch, mit welch ausgeprägtem Sinn für Rhythmus und Melodie, Emotionen und Atmosphäre sie zu schreiben versteht.

Wie kann man sich eure Zusammenarbeit vorstellen?
Ich halte nichts davon, Komponisten ein komplettes Szenarium zur Vertonung auszuhändigen, das erst sie und später mich vor vollendete Tatsachen stellt. Laura Rossi und ich haben sehr eng zusammengearbeitet. Es war ein ständiger Dialog mit wöchentlichen Zoom­-Meetings, bei denen wir im Detail an einzelnen Szenen und emotionalen Feineinstellungen für bestimmte Figuren oder Ereignisse gefeilt haben. So ist genau die Musik entstanden, die ich mir für jede einzelne Szene von Atonement wünsche.

Welche professionelle Entwicklung durchläuft die Choreografin Briony Tallis in deinem Ballett?
Von Brionys ersten choreografischen Versuchen sehen wir nur kurze Momente. Wie stellt sich ein kleines Mädchen Ballett vor? Vielleicht hat sie irgendwo eine Aufführung von Giselle erlebt. In ihrer etwas naiven Sicht ist die Welt von Archetypen bevölkert. Prinzen und Prinzessinnen stehen Helden und Schurken gegenüber. Brionys weitere Entwicklung als Choreografin ist mit ihrer Entwicklung als Persönlichkeit verknüpft. Die Elemente ihrer Biografie liefern die Inspiration für das, was sie in ihren Balletten auf die Bühne bringt. Der Abschied von Robbie und Cecilia, als er in den Krieg zieht, ist der Ausgangspunkt für einen Pas de deux, den Briony choreografiert. Das eigene Leben ist die Grundessenz für den Tanz, den sie entwickelt, aber immer wieder auch zerstört und neu erschafft. Alle handelnden Figuren sind in gewissem Sinn die Erfindungen Brionys, das ganze Ballett ist ihre Erfindung und Ausdruck ihrer Sicht auf die Welt. Je älter sie wird, desto mehr bewegt sich das Ganze in die Richtung tänzerischer Abstraktion.

Michael Levine als Bühnenbildner und Bregje van Balen als Kostümbildnerin vervollständigen unser Team. Was sind die Herausforderungen für die beiden?
Es war für Michael Levine und mich sehr wichtig, die alte, untergehende Welt der Privilegien und Klassengegensätze in eine passende Form zu übersetzen. Im Buch gibt es die berühmte Szene am Brunnen, wo Robbie eine antike Vase zerbricht. Im Ballett gibt es diese Szene nicht, aber uns schwebte vor, dass das ganze Bühnenbild selbst irgendwie wie ein teures Erbstück wirkt, dass zu Bruch geht. Deshalb erscheint die idyllische Landschaft, die wir am Anfang sehen, mit dem Eintritt in das Grauen des Zweiten Weltkriegs beschädigt, verschmiert und zerstört. Viel mehr als Farbe bleibt nicht übrig, zumal am Ende klar wird, dass alles ohnehin nur Schein und eine Erfindung war. Bregje van Balen hat die Geschichte mit den Kostümen für die Soldaten, die Gefangenen und die Krankenschwestern zeitlich eingefasst, ohne sie historisch zu genau zu verorten. Auch wie sie gerade im ersten Teil die einzelnen Figuren in ihrem Charakter mit ihren Kostümen ganz individuell erfasst, begeistert mich sehr.

Gehst du nun mit McEwans Buch unter dem Arm auch in den Ballettsaal?
An meine Literatur­-Adaptionen gehe ich nicht mit dem Gedanken heran, dass ich klüger bin als das Buch. Atonement ist ein grossartiger Roman und kann völlig für sich stehen. Aber wenn ich spüre, dass es den schon erwähnten Raum für eine choreografische Nacherzählung gibt, versuche ich die Ideen des Autors in meine Erzählsprache zu übersetzen. Eine kurze Geste oder eine Bewegung können oft in einer halben Sekunde ausdrücken, wofür der Text mehrere Seiten benötigt. Auch in den Gruppenszenen kann man mit Tanz eine grosse Prägnanz und Genauigkeit erreichen. Ich stehe beim Choreografieren in einem ständigen Dialog mit Ian McEwans Buch. Ich bin inspiriert, besessen, fasziniert von der Geschichte und den Fragen, die sie aufwirft, und ich denke darüber in meiner Sprache nach.

Was hält denn Ian McEwan davon, dass sein Roman jetzt als Ballett auf die Bühne kommt?
Der Komponist Michael Berkeley, der das Libretto zu einer nicht realisierten McEwan-­Oper verfasst hat, hat den Kontakt zu Ian McEwan hergestellt. Auf meinen Vorschlag, seinen Roman als Ballett auf die Bühne zu bringen, hat er sehr positiv und aufgeschlossen reagiert. Ich weiss nicht, wie oft er in seinem Leben mit Ballett in Verbindung gekommen ist, aber es scheint ihm keine völlig fremde Welt zu sein. Sehr grosszügig und vertrauensvoll hat er uns für die Inszenierung völlig freie Hand gelassen, und so wird Atonement nun das erste Ian McEwan-­Ballett.

Unsere Inszenierung entsteht als Koproduktion mit dem Joffrey Ballet Chicago, und sie verdient diesen Namen auch wirklich…
In den letzten Jahren habe ich häufig für das Joffrey Ballet gearbeitet, und die Idee einer Koproduktion mit dem Ballett Zürich stiess in Chicago sofort auf offene Ohren. Schon im vorigen Sommer hatte ich Gelegenheit, mit den Joffrey­-Tänzerinnen und -­Tänzern Ideen zu entwickeln und einige Szenen zu erarbeiten, an denen wir dann hier in Zürich mit unseren Tänzerinnen und Tänzern weitergearbeitet haben. Die Choreografie ist also wirklich mit beiden Ensembles entstanden. Meiner Arbeitsweise als Choreografin kommt das sehr entgegen. Ich liebe es, mit ganz unterschiedlichen Besetzungen zu proben und zu sehen, welche unterschiedliche Energien verschiedene Künstler in die jeweiligen Rollen einbringen und ihnen so immer ungeahnte Ausdrucksnuancen abgewinnen. Es ist mir sehr wichtig, dass ein neues Stück nicht nur einem zentralen Paar, sondern dem ganzen Ensemble gehört. Deshalb freue ich mich auf viele weitere gemeinsame Produktionen mit dem Ballett Zürich und bin jeden Tag froh über die Gelegenheit, Tänzerinnen und Tänzer aus der ganzen Welt zusammenzubringen, die meine Leidenschaft für das Erzählen von Ballettgeschichten teilen.

Das Gespräch führte Michael Küster.
Dieser Artikel ist erschienen im MAG 111, Mai 2024.
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Ich verändere mich jeden Tag

Interview

Max, in Cathy Marstons Ballett Atonement tanzt du die Rolle der Cecilia Tallis. Was ist das für eine Figur, und wie erarbeitest du sie dir im Prozess der Inszenierung?
Interessanterweise finde ich in Cecilia viel von mir selbst wieder. Mich fasziniert diese junge Frau, die auf der Suche nach dem Platz in ihrem Leben ist und sich klar werden muss über die Beziehung, die sie mit Robbie, dem Sohn der Haushälterin ihrer Familie, verbindet. Beide wissen ja, dass sie etwas füreinander empfinden, sie ignorieren es aber bis zu jenem Ereignis, das sie zwingt, sich ihren Gefühlen zu stellen und diese zuzulassen. Realitäten als solche anerkennen zu müssen, das kenne ich aus eigenem Erleben. Cecilia und Robbie entdecken ihre Liebe zueinander, aber viel Zeit bleibt ihnen nicht. Der kurze Moment des gemeinsamen Glücks ist im Handumdrehen vorbei. Cecilias Schwester Briony beschuldigt Robbie eines Verbrechens und sorgt mit ihrer Falschaussage dafür, dass er ins Gefängnis geworfen wird. Von dort zieht er auf die Schlachtfelder des Zweiten Weltkriegs. «Komm zurück zu mir» ist ein Schlüsselsatz von Cecilia, der in unserer Inszenierung gerade eine wichtige Rolle spielt, und so bringe ich Robbie als Cecilia immer wieder dazu, mich anzusehen, sich auf mich zu konzentrieren und die Welt um sich herum zu vergessen.

Wo liegen die choreografischen Herausforderungen?
Cathy Marstons Choreografie für das hochemotionale Geschehen ist sehr komplex. Im Moment versuchen wir, viele Dinge logistisch und bewegungstechnisch zu lösen, ohne dabei die Narration, das Erzählen der Geschichte, aus den Augen zu verlieren. Durch die verschiedenen Handlungsebenen, die Ian McEwan in seinem Roman angelegt hat, muss ich mir selbst auch immer wieder klar machen, was jetzt gerade Realität und was Fiktion ist. Die Geschichte muss ich auch in den kompliziertesten Pas­-de­-deux-­Elementen immer im Hinterkopf haben.

Du bist seit Beginn dieser Saison Mitglied des Balletts Zürich. Welche Erwartungen hattest du an diese Compagnie, und wie haben sie sich in dem zurückliegenden halben Jahr eingelöst?
Ich war vor allem auf der Suche nach einem anderen Repertoire, als ich es bisher getanzt hatte. Nach meiner ersten Zusammenarbeit mit Cathy Marston in den USA war ich neugierig geworden und habe mir von einem Wechsel nach Zürich neue Herausforderungen erhofft. Das realisiert sich gerade auf wunderbare Weise. An der Entstehung eines neuen Balletts und an der Kreation einer neuen Rolle beteiligt zu sein, ist ein Riesenprivileg. Mit Cathy Marston an der Figur der Cecilia zu arbeiten, fühlt sich gerade sehr authentisch an. Oft bin ich selbst überrascht, was sie an Emotionalität und Tiefe aus mir herausholt.

Du kommst aus den USA, bist dort im Bundesstaat Georgia aufgewachsen. Wie bist du zum Tanzen gekommen?
Mit Sieben nahm mich die Mutter einer Freundin mit in einen Tanzkurs, und das war vom ersten Tag an pure Begeisterung. Ich war kaum zu bremsen und habe trainiert, was das Zeug hielt. Ich habe an vielen Wettbewerben wie dem Youth America Grand Prix teilgenommen und wurde mit 15 Jahren Mitglied der Nachwuchscompagnie des Houston Ballet. Ich erinnere mich gut, wie schnell das damals alles ging. Innerhalb einer Woche bin ich von Atlanta nach Houston gezogen. Es war einer dieser Momente, in denen dir das Universum sagt: Du musst das jetzt versuchen! Und tatsächlich war es für mich die richtige Entscheidung.

Du hast dann auch in der Hauptcompagnie des Houston Ballet getanzt. Was ist das für eine Compagnie, und was hat sie für deine künstlerische Entwicklung bedeutet?
Das Houston Ballet ist ein vor allem klassisch ausgerichtetes Ensemble mit einem sehr hohen technischen Standard. Neben den grossen Werken des klassischen Repertoires haben wir immer wieder auch modernere Sachen, wie z.B. Werke von Jiří Kylián, einstudiert. Schon früh habe ich Soloparts wie die Zuckerfee im Nussknacker getanzt, und das hat etwas von dem Druck genommen, den ich bei Wettbewerben gespürt habe. Dort hast du zweieinhalb Minuten, um die Leute von dir zu überzeugen. Gerade als es so richtig losging, kam die Corona-­Pandemie. Es war eine Herausforderung, sich in dieser Situation nicht hängen zu lassen. In meiner winzigen Wohnung habe ich weiter trainiert, und als der Spuk dann endlich vorbei war, war ich bereit für Odette/Odile in Schwanensee. Bei diesen grossen Rollen geniesse ich es, tief in den jeweiligen Charakter einzudringen und mich in die Arbeit an den choreografischen Details zu versenken. Zürich scheint dafür absolut der richtige Ort zu sein.

Beim Houston Ballet hast du als Mackenzie Richter getanzt, in Zürich ist aus Mackenzie Richter nun Max Richter geworden. Was ist da passiert?
Ehrlich gesagt, war das kein Ereignis, sondern eher ein allmählicher Prozess des Übergangs von einer Identität in die andere. Je länger ich über mich nachgedacht habe, desto klarer wurde mir, dass mir die eindeutige Zuordnung zur Kategorie «She / Her» nicht entspricht und ich mich als nonbinär definiere. Ich verändere mich jeden Tag, und wenn ich aufwache, entscheide ich, was ich anziehen will – egal, ob das nun etwas Superweibliches oder etwas eher Männliches ist. Leute in meiner Umgebung fingen irgendwann an, mich Max zu nennen, und am Anfang habe ich gar nicht realisiert, wie sehr mir das gefiel. Aber irgendwann hatte ich, wenn ich als Mackenzie angesprochen wurde, das Bedürfnis, mein Gegenüber zu korrigieren und habe dann am Ende meiner Zeit in Houston begonnen, den Namen Max zu verwenden. In Zürich stellte sich die Namensentscheidung dann noch einmal neu. Schliesslich war ja Mackenzie Richter immer mein Künstlername gewesen. Die Ballettdirektion hat mich bei der Namensänderung sehr unterstützt, und inzwischen merke ich, wie wichtig dieser Schritt für mein Wohlbefinden war.

Nun ist Max Richter allerdings auch ein gerade in der Ballettwelt sehr berühmter Komponist, dessen Musik häufig vertanzt wird. Wir haben in dieser Spielzeit Wayne McGregors Stück Infra mit Musik von Max Richter gezeigt. Was verbindet dich mit ihm?
Natürlich kannte ich Max Richter, und oft werde ich auch wegen unseres gemeinsamen Nachnamens gefragt, ob ich vielleicht mit ihm verwandt sei. Das sind wir nicht! Seine Musik allerdings mag ich sehr. Den Namen Max haben mir eher meine Freunde gegeben. Es war keine bewusste Entscheidung für den Namen des Komponisten, und am Anfang war Max auch eher ein Spitzname. Aber tatsächlich wurde es dann der Name, mit dem ich mich am wohlsten fühle.

Was bedeutet diese Entscheidung für die Nonbinarität für deinen Alltag in einer Ballettcompagnie?
Ich bin dabei, das herauszufinden. Ich möchte, dass nonbinäre Menschen auch im Ballett sichtbarer werden. Auch wenn es oft noch ausgeblendet wird, muss ich sagen: Es gibt uns wirklich! Deshalb würde ich gern auch Rollen eigens für uns choreografieren. Wenn ich eine Rolle wie die Cecilia in Atonement tanze, ist ganz klar, dass das ein weiblicher Charakter ist. Aber gerade im Bereich der abstrakten Choreografie ist die eindeutige Verortung der Geschlechterrollen längst nicht mehr in Stein gemeisselt. Da verändert sich gerade sehr viel. Aber noch ist es selten, dass Tänzer:innen Rollen in ihrer neuen Geschlechtszugehörigkeit tanzen. Leroy Mokgatle, bis letzte Saison Mitglied des Balletts Zürich und inzwischen beim Staatsballett Berlin, hat mich sehr inspiriert. Auch Ashton Edwards vom Pacific Northwest Ballet in Seattle tanzt männliche und weibliche Rollen. Der Umgang mit dem Thema ist für alle neu, und es gibt wenig Erfahrungswerte, auf die man zurückgreifen könnte. Meine Umgebung hier in Zürich erlebe ich zum Glück als sehr aufgeschlossen gegenüber dem Thema Inklusion. Am Anfang war es komisch, die Leute zu bitten, sich für einen zu ändern, damit man sich wohler fühlt. Aber inzwischen denke ich, dass wir es verdient haben, als das anerkannt zu werden, was wir sind. Je sichtbarer nonbinäre Menschen in der Ballettwelt werden, desto grösser wird ihre Akzeptanz.

Der Rollenkanon des klassischen Balletts ist völlig binär gedacht. Was geht dir durch den Kopf, wenn du als nonbinäre Person diese weiblichen Rollen tanzt?
Auch als nonbinäre Person besitzen die weiblichen Rollen für mich eine starke  Anziehungskraft, und ich werde diese Charaktere auch weiterhin interpretieren. Vielleicht stellt sich ja irgendwann ein Gleichgewicht von weiblichen und nonbinären Rollen ein, aber das ist noch Zukunftsmusik. Im Theateralltag bringen die weiblichen Rollen immer noch Entscheidungen für das Erscheinungsbild auf der Bühne mit sich: Verlangt die Choreografie zum Beispiel, dass ich unbedingt mit femininen langen Haaren auftrete, oder darf ich sie so kurz lassen, wie sie sind? Bei Neukreationen finde ich es deshalb wohltuend, wenn ich genauso sein darf, wie ich bin und mein Aussehen nicht extrem verändern muss.

Was sollte sich im Ballett hinsichtlich der Besetzungsfragen verändern? Welche Rollen wünschst du dir?
Bei Choreografinnen und Choreografen sollte ein Umdenken einsetzen. Bei den Besetzungen folgen sie noch viel zu oft der gängigen Einteilung in Tänzerinnen und Tänzer, Nonbinarität kommt in den Besetzungsrastern noch nicht wirklich vor. Für mich selbst kann ich mir ganz unterschiedliche Rollen vorstellen. Den Drosselmeier im Nussknacker fände ich spannend, ebenso den Hutmacher in Alice im Wunderland oder einen so changierenden Charakter wie Virginia Woolfs Orlando.

Du hast schon erwähnt, wie wichtig dir das Sichtbarmachen von Nonbinarität ist. Bei Kritik und Publikum gibt es allerdings Irritationen, wenn als Braut in Bronislava Nijinskas Les Noces oder als Schwester in Cathy Marstons The Cellist eine Person namens Max Richter angekündigt ist. Warum setzt du dich diesem «Verwirrspiel» ganz bewusst aus?
Ich verstehe, dass das für einen Teil des Ballettpublikums erst einmal eine ungewohnte Erfahrung ist. Aber irgendjemand muss es machen! Nur dann wird es hoffentlich irgendwann zu einer Selbstverständlichkeit. Wenn ich also etwas zu einem Umdenken beitragen kann, will ich das gerne tun.

Mit welchem Selbstverständnis gehst du heute auf die Bühne?
Ich finde es wichtig, authentisch zu sein. Nicht nur in Stücken, die sich mir erschliessen, weil sie irgendwie meinem Naturell entsprechen, sondern gerade auch in Rollen, in denen ich mich in eine andere Identität versetzen und die ich beim Publikum beglaubigen muss. Wenn das gelingt, ist es das pure Glück.

Das Gespräch führte Michael Küster.
Dieser Artikel ist erschienen im MAG 111, Mai 2024.
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Ein Leben, wie es im Buch steht

Hintergrund

Ian McEwan liebt es, sich als Erzähler in immer neue, scheinbar ausweglose Situationen zu manövrieren. Mal verwandelt er den englischen Premierminister in eine Kakerlake und also in einen Nachfahren von Franz Kafkas Gregor Samsa (in seinem Roman Das Ungeziefer); mal entwickelt er ein Liebesdreieck, das von einem Roboter beherrscht wird (Maschinen wie wir); mal zäumt er einen Roman aus der Perspektive eines ungeborenen Kindes auf (Nussschale); mal schildert er eine Familiengeschichte, die erst richtig beginnt, nachdem die Kinder die tote Mutter heimlich verscharrt haben (Der Zementgarten).

Sein Roman Abbitte, der 2002 erschienen ist, passt in diese Reihe abgründiger Ideenromane auf den ersten Blick nicht hinein. Das umfangreiche, souverän erzählte Buch zeigt sich dem Leser zunächst als der grandios gelingende Versuch, die Tradition des englischen Romans des 19. Jahrhunderts fortzuführen – so organisch werden die Figuren entwickelt und mit herrlichen Nuancen ausgestattet, so majestätisch schnurrt der Motor des Erzählens einem zufriedenstellenden Ende entgegen. Doch dieses Ende hat es in sich: Es sprengt in gewisser Weise rückwirkend den ganzen Roman. Es erklärt ihn für nichtig, für Täuschung.

In seinem Postskriptum erweist sich die Wahrheit des Romans als eine Deckwahrheit, unter der sich etwas anderes versteckt: das Seeleninnere einer einsamen, von Schuld erdrückten Erzählerin. Abbitte gehört in eine Reihe von Kunstwerken, die von «unzuverlässigen Erzählern» beherrscht werden und diesen Umstand bis zum Ende verschleiern. Zu den berühmtesten Beispielen dieser Kunst zählen zwei amerikanische Kinofilme, Die üblichen Verdächtigen und Schiffbruch mit Tiger. In beiden wird erst auf den letzten Metern klar, dass wir, die Zuschauer, die Handlung völlig falsch «gelesen» haben. In den Üblichen Verdächtigen lernen wir, dass der Film bloss die Lügengeschichte eines Verbrechers war; er setzte seine Story tollkühn aus den Motiven zusammen, die ihm eine Pinnwand voller Fotografien an der Rückwand des Verhörraums geliefert hatte. Und in Schiffbruch mit Tiger wird im Finale aufgedeckt, dass der einsame Held des Films als Schiffbrüchiger auf seinem Boot nicht, wie es den Anschein hatte, gegen wilde Tiere, sondern gegen bestialische Menschen hatte kämpfen müssen.

Auch Abbitte ist ein grandioser Betrug. Am Ende zeigt sich der Roman, der 1935 anhebt und 1999 endet, als ein System, das zur Selbstanklage und letztlich zum Trost seiner Schöpferin, der Schriftstellerin Briony Tallis, erfunden wurde. Sie will darin wieder gut machen, was sie in der Wirklichkeit vor langer Zeit zerstört hatte: das Leben ihrer Schwester Cecilia und das von Cecilias Geliebtem, Robbie. Sie hatte Robbie als junges Mädchen einer Vergewaltigung bezichtigt, um ihn und ihre Schwester auseinanderzubringen. Robbie wurde 1935 in Haft genommen und kam erst frei, als der Zweite Weltkrieg ausbrach – in dem er als britischer Soldat bei einem Angriff der Deutschen starb. Auch Cecilia starb im Krieg. In Abbitte wird das Entscheidende von Briony ganz anders dargestellt: Hier überstehen Cecilia und Robbie alle Katastrophen und finden wieder zueinander.

Dichten heisse, Gerichtstag zu halten über sich selbst, hat Henrik Ibsen gesagt; Er war ein Dramatiker, der die Figuren seiner Stücke wie Schachfiguren gegen sich selbst, den einsamen König, führte. In Abbitte ist es Briony Tallis, die alle Gestalten um sich herum bewegt. Das verschleiert sie aber, indem sie sich selbst als eine von mehreren Hauptfiguren des umfangreichen Romans tarnt und, aus einiger Distanz, in der dritten Person beschreibt. In Wahrheit ist sie die manipulative Erzählerin des Ganzen, ein Umstand, den Ian McEwan erst im letzten, kürzesten Teil des Romans offenbart.

Der Schriftsteller Martin Walser hat einmal die vermutlich rhetorische Frage gestellt, ob der Mensch noch einen anderen Grund habe, eine Geschichte aus seinem Leben zu erzählen, als den, darin besser wegzukommen als in Wirklichkeit. Der Verdacht hinter diesem Satz ist, dass wir unsere Vergangenheit immerzu ausbessern und aufhellen, dass «Erinnerungsarbeit» mit Fälschung, vielleicht sogar mit der Erfindung des Gewesenen gleichzusetzen sei. Wir sind alle unzuverlässige Erzähler. Deshalb kündigen wir der Erzählerin Briony nicht das Vertrauen auf, nachdem wir die ganze Wahrheit über sie erfahren haben; wir sind bis zum Schluss an ihrer Seite.

Sie erzählt ihr Leben, aber sie erzählt es falsch. Das ist im Kriminalroman eine beliebte Strategie; dort dient sie dazu, uns von der Verdorbenheit und Schläue des Erzählers zu überzeugen – man nehme nur die Romane von Patricia Highsmith, an ihnen lässt sich diese Methode studieren. Jedoch, in Abbitte liegt der Fall anders. Briony täuscht und fälscht nicht für andere; sie tut es vor allem für sich selbst. Sie erzählt ihr Leben als eine Geschichte, mit der sie leben kann.

Der junge Ian McEwan liebte es, die Leser mit seinen Plots zu schockieren; der reife McEwan, mit dem wir es in Abbitte zu tun haben, will sie eher nachhaltig erschüttern – durch die Doppelbödigkeit seiner Romanwelten. «Briony gehörte zu jenen Kindern, die eigensinnig darauf beharren, dass die Welt genau so und nicht anders zu sein hat.» So heisst es ziemlich am Anfang des Romans, und mit diesem Satz wird schon der oberste Boden der Geschichte angehoben und ein Blick in die Abgründe darunter möglich.

Es ist ein Satz, der klar macht, dass hier nur eine Instanz das Sagen hat: die Dichterin Briony selbst, die hier über sich selbst urteilt – und sich zugleich die Lizenz erteilt, ihr Leben mit den Mitteln der Literatur noch einmal aufzuführen, es umzuskizzieren und in Teilen auszuradieren. Die überbordende erzählerische Opulenz, von der manche Passagen des Romans geprägt werden, ist, vom Ende her gesehen, kein eitler Selbstzweck des Autors Ian McEwan. Nein, alles ist genau kalkuliert und hat einen inhaltlichen Grund. Die Kunst des Erzählens, die Meisterung des Stoffs zeigt die Tiefe der Verzweiflung – Brionys Verzweiflung! –, aus der hier erzählt wird.

Denn die Autorin hat Menschen auf dem Gewissen, die sie wenigstens hier, in ihrem Buch, in Sicherheit bringen will. Sie muss das schönste, beste, tiefste Werk schreiben, das es in der englischen Literatur je gab. Sie bürdet ihm eine Aufgabe auf, die keine Kunst erfüllen kann: Es soll jene zwei Leben retten, die sie, Briony, auf dem Gewissen hat. Es soll retten, was von Beginn an verloren war.

Die Szene, in der Cecilia und Robbie ahnen, dass sich eine Liebe zwischen ihnen anbahnt, ist ein Meisterstück, eine jener Passagen, in denen McEwan (in Brionys Namen) die Muskeln spielen lässt und eher wie ein genialer Gemälderestaurator wirkt denn wie ein grosser Maler: weil er die Lichteffekte, die Lupen­ und Zeitverzögerungstricks der Alten Meister – E. M. Forster, Virginia Woolf, Jane Austen, Katherine Mansfield und vieler anderer – so trefflich zu nützen (zitieren) versteht: Am Rand eines Brunnens geht den beiden eine wertvolle Vase kaputt. Robbie nimmt die Schuld an dem kleinen Missgeschick auf sich; Cecilia ist dennoch wütend.
So schildert McEwan den Moment: «Mit einem Geräusch, als bräche ein trockner Ast, splitterte ein Teil vom Vasenrand ab und zerbrach in zwei dreieckige Stücke, die aus seiner Hand ins Wasser fielen und synchron in Zickzackschwüngen zu Boden sanken, wo sie sich in einigen Zentimetern Abstand im gebrochenen Licht zu krümmen schienen.»

Das ist in höchstem Masse anschaulich und voller Symbolkraft. Ganz Oberfläche und ungeheuer tief. Denn die Vasensplitter, die hier synchron zu Boden sinken, stehen sinnbildlich für die beiden jungen Liebenden, deren heile Welt in diesem Moment zerbricht und die schon bald – mehr oder weniger synchron – ihrem Untergang entgegensinken werden (was der Leser erst begreift, wenn er das Romanende kennt; die Welt der Dinge weiss es schon jetzt). Jetzt aber entkleidet sich Cecilia bis auf die Unterwäsche und steigt in den Brunnen, um die Splitter zu bergen; es ist eine Gelegenheit, sich wütend und zugleich betörend dem verwirrten Robbie zu zeigen. Und ihn endgültig zu entzünden. McEwan beendet die Brunnenszene mit einem Blick auf den jungen Mann: «Dann drehte er sich um und suchte das Becken ab, ob nicht ein Bruchstück übersehen worden war, konnte aber kaum etwas erkennen, da sich das Wasser noch nicht wieder beruhigt hatte, fast, als würde es stets aufs Neue vom Gespenst ihrer Wut aufgewühlt. Er legte eine gespreizte Hand auf die Oberfläche, als wollte er das Wasser besänftigen. Cecilia war längst im Haus verschwunden.»

Abbitte ist ein Roman der zweiten Lektüre. Hat man sein Ende begriffen und liest dann noch einmal die grosse Liebesszene aus dem ersten Teil, den Kuss, den einzigen Koitus von Cecilia und Robbie, erscheint diese Intimität wie ein zu spätes Geschenk der Autorin an ihre Figuren: die Auferstehung zweier Toter im Moment ihres grössten Glücks.

Den Moment, den Briony damals als stumme Zeugin, vermutlich wie vom Donner gerührt, 13-­jährig in der Bibliothek mitangesehen hatte, schildert sie nun, 77-­jährig, als hellhörige, zugewandte Erzählerin. Es ist, mehr als 60 Jahre später, ein Akt der Liebe einer Frau für ihre tote Schwester. Es ist eine Szene, in der auch sie selbst aufgehoben ist – als Mitwisserin, als erotische Teilhaberin. Und als diejenige, die dafür sorgt, dass dieser Moment zwischen Cecilia und Robbie nicht vergehen wird. Es ist das Einzige, was sie für die beiden tun kann.

Die Trauer, das umfassende Verlustgefühl, das dieser Roman dem Leser am Ende bereitet, ist ein beträchtlicher Teil seiner Wirkung. Zu begreifen, dass das Paar, mit dem man hier bangt, in Wahrheit längst tot ist, und dass Abbitte als ein literarisches Mahnmal dieser Liebe gelesen werden muss, ist ein Schock. Er lässt sich am besten dadurch lindern, dass man ins Buch gleich wieder eintaucht und noch einmal die frühe Szene liest, die am Brunnen spielt und in der das Wasser noch immer von Cecilias Wut aufgewühlt ist – bis in alle Ewigkeit, frei erfunden, aber tief wahrhaftig. Im Grunde ist Abbitte auch eine Aufforderung, das eigene Leben wieder zu lesen und neu zu verstehen.

Vor ein paar Jahren habe ich Ian McEwan und seinen Freund (und Rivalen) Julian Barnes zu einem gemeinsamen Interview getroffen. Während des Gesprächs gab McEwan eine Definition grosser Kunst, und es spricht für ihn, dass er dazu kein eigenes Werk herbeizog, sondern das eines älteren Kollegen. Er sagte: «In Saul Bellows Roman Der Dezember des Dekans gibt es eine wundervolle Szene, die in Bukarest spielt. Der Protagonist, ein Professor, findet keinen Schlaf, alle Hunde von Bukarest scheinen gleichzeitig zu bellen, und der Professor stellt sich vor, dass alle, die da bellen, Gott anflehen, er möge ihnen Wissen, eine Erweiterung ihres Bewusstseins schenken. Das Universum, so fordern sie heulend, soll sich ihnen ein wenig mehr öffnen! Und ich glaube, das ist genau das, was wir von der Kunst wollen. Eine Erzählung soll uns das Universum aufschliessen. Ungeachtet dessen, ob sie gut oder schlecht ausgeht.»

Genau das ist Ian McEwan mit Abbitte gelungen.


Ein Essay von Peter Kümmel.
Dieser Artikel ist erschienen im MAG 111, Mai 2024.
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Zug um Zug

Wie machen Sie das, Herr Bogatu?

Dieser umgibt die Bühnenfläche, hängt oben in einer Schiene und bildet so den seitlichen und hinteren Abschluss. Das Motiv ist eine typische englische Landschaft mit Hügeln, Wäldern und Schafen. Im zweiten Akt setzt sich dieser Vorhang langsam in Bewegung und die Landschaft wandert langsam nach links, als ob Sie aus dem Fenster einer historischen Eisenbahn schauen und diese ganz gemächlich losfährt: Die Landschaft zieht langsam vorbei.

In Wirklichkeit sitzen Sie aber im Zuschauerraum und von rechts kommt ein neuer Teil der Landschaft in Sicht, macht einen Bogen, wandert nach hinten, dann nach links, dann wieder nach vorne, um schliesslich einen Bogen nach links zu machen und ausser Sicht zu verschwinden. Wir nennen sowas einen Rundhorizont – die ganze Bühne wird von dem Bild der Landschaft umschlossen. Während die Landschaft vorbeizieht, wird das Motiv der Landschaft dunkler und beginnt zu verschwimmen. Der Vorhang wandert weiter, und von rechts kommen nur noch verwischte dunkle Streifen in Sicht. Am Ende besteht der ganze sichtbare Vorhang nur noch aus diesen Streifen – wie eine Landschaft im Mondschein aus einem rasend schnellen TGV betrachtet.

Damit sich die Landschaft so verwandeln kann, braucht es einen sehr, sehr grossen Vorhang. Würden Sie diesen aus Bettlaken zusammennähen, benötigten Sie 550 Laken, denn der Vorhang hat eine Fläche von 1100 Quadratmetern, ist 8,5 Meter hoch und 130 Meter lang. Die vom Bühnenbildner am Computer gestaltete 130Meter lange wandelnde Landschaft haben wir von einer Firma auf den Stoff drucken lassen. Unsere Tapeziererinnen und Tapezierer haben oben in den Vorhang im Abstand von 25 Zentimetern Ösen geschlagen, an denen ein kleiner Laufwagen befestigt ist, mit dem der Vorhang in der Schiene hängt.

Um den Vorhang zu bewegen, haben unsere Maschinisten oben links an der Schiene eine Art Förderband befestigt, das von Elektromotoren angetrieben wird, die Laufwagen greift und nach links ausser Sicht zieht. Da am Laufwagen der Vorhang hängt, bewegt dieser sich dann nach links, und der nächste Laufwagen wird ins Förderband gezogen usw. Das klingt recht simpel, doch bei so vielen Laufwagen, so viel Stoff und so vielen Metern gebogener Schiene klemmt es noch ab und zu, jetzt, zum Zeitpunkt, an dem ich diese Kolumne schreibe und die ersten Bühnenproben begonnen haben. Das Förderband kann dann noch so viel ziehen – es läuft nichts mehr: Die Landschaft steht. Dann muss schnell ein Techniker oder eine Technikerin mit unserer Hebebühne hinter dem Vorhang hoch zur Schiene fahren und den neuralgischen Punkt finden, um die Blockade zu lösen. Im Moment noch müssen die Kolleg:innen die ganze Probe dort oben ausharren und immer wieder eingreifen. Aber wir sind zuversichtlich, dass wir in den nächsten Tagen die Verbindungen zwischen den einzelnen Schienenteilen so optimieren können, dass nichts mehr klemmt und niemand bei Proben und Vorstellungen den Dienst in einem kleinen Korb einer Hebebühne auf acht Meter Höhe leisten muss.

Sebastian Bogatu ist Technischer Direktor am Opernhaus Zürich.
Dieser Artikel ist erschienen im MAG 111, Mai 2024.
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Jonathan Lo

Fragebogen

Aus welcher Welt kommst du gerade?
Mit einer meiner Heimatcompagnien, dem Australian Ballet, habe ich dort gerade Christopher Wheeldons Alice’s Adventures in Wonderland aufgeführt.

Worauf freust du dich bei Cathy Marstons Atonement besonders?
Auf das Erzählen dieser spannenden Geschichte mit der universellen Sprache der Musik und des Tanzes. Ian McEwans Buch mit all seiner Menschlichkeit und seinen vielen Nuancen ist wie geschaffen für Cathys Kreativität.

Worin besteht für dich als Dirigent die Herausforderung bei der neu komponierten Musik von Laura Rossi?
Lauras Partitur ist sehr besonders, was die Temponuancen und die dramatischen Intentionen angeht. Auch einige Orchestrierungen sind ziemlich einzigartig. Die Herausforderung besteht darin, alles zusammenzufügen, einen überzeugenden Bogen zu spannen und dabei die kleinen Schritte nicht ausser Acht zu lassen. Nur so kann man all den unterschiedlichen Farben gerecht werden.

Welche Bildungserfahrung hat dich besonders geprägt?
Meine ersten Dirigiererfahrungen in Oxford. Damals habe ich begriffen, welch menschenverbindende Kraft das Musizieren hat. Es war eine Zeit voller Emotionen, Freundschaften und Dramen. Mein Wunsch, Dirigent zu werden, ist damals immer stärker geworden.

Welches Buch würdest du niemals weggeben?
Mein Hochzeitsalbum natürlich! Aber gleich danach kämen Rainer Maria Rilkes Briefe an einen jungen Dichter. Ich habe sie damals an der Musikhochschule gelesen, und wahrscheinlich verdanke ich diesem Buch, dass ich (grösstenteils!) bei Verstand geblieben bin. Die Kunst zu lieben, bevor wir unsere Leidenschaft zu unserem Beruf gemacht haben, war einfach. Heute gehört zu diesem Leben ständiges Lernen und Meditation. Rilkes Schriften haben mir sehr beim Nachdenken geholfen.

Welchen überflüssigen Gegenstand in deiner Wohnung magst du am meisten?
Unsere Barhocker! Nach dem Abend essen sitzen wir oft noch auf dem Balkon. An der frischen Luft und mit dem Blick in den Abendhimmel tritt der berufliche Stress ganz in den Hintergrund.

Welche CD hörst du immer wieder?
Bachs Matthäus-Passion. Das Stück ist viel mehr als Religion. Ein dreistündiges Menschheitspanorama, erzählt durch Musik und Tanz. Ja, Tanz! In der Matthäus-Passion tanzt die Musik, wie in so vielen Werken Bachs. Das ist wohl, zusammen mit all den Affekten, der Grund, warum sie uns so tief berührt.

Mit welcher Persönlichkeit würdest du gerne mal zu Abend essen?
Mit dem britischen Komponisten und Jazzmusiker Richard Rodney Bennett. Er kannte alles und jeden, und zu gern würde ich mir von all den Grössen erzählen lassen, mit denen er gearbeitet hat. Nach ein paar Gläsern würde ich ihn dann irgendwohin schleppen, wo es ein Klavier gibt, und ihn zum Singen und Spielen animieren.

Wie wird die Welt in 100 Jahren aussehen?
Wir werden alle in eine virtuelle Realität hochgeladen worden sein...

Dieser Artikel ist erschienen im MAG 111, Mai 2024.
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Laura Rossi

Volker Hagedorn trifft...

Rare Situation, eine Geschichte in Tönen zu hören, die man noch nicht gelesen hat. Ich weiss nur in Grundzügen, worum es in Ian McEwans Roman Abbitte von 2001 geht, als ich im Probensaal am Kreuzplatz sitze und der Philharmonia Zürich lausche. Der Dirigent Jonathan Lo steuert die Musikerinnen und Musiker erstmals durch den zweiten Teil des Balletts, das nach dem Buch entsteht, und die Partitur klingt schon so klar, dass sich wie von selbst Bilder einstellen – nicht nur, wenn Militärtrommeln auf die Soldaten der britischen Armee schliessen lassen, die 1940 aus Dünkirchen evakuiert werden. Verdichtungen, Entspannungen, grossangelegte rhythmische Patterns, Registerwechsel, undurchdringliche Cluster, idyllische Linien… Man hört, dass es um Konflikte, Begegnungen, um Liebe geht. Und dass es, last but not least, eine Filmkomponistin ist, die da ein paar Meter hinter dem Dirigenten in ihrer grossen Partitur mitliest und immer wieder fröhlich ins Orchester schaut. Laura Rossi ist für zwei Tage aus London nach Zürich gekommen, um hier Details mit Jonathan Lo und Cathy Marston klären zu können, der Choreografin, die dieses Projekt ersann und sich ausdrücklich Laura Rossi als Komponistin wünschte. «Was sie darauf brachte, war Battle of the Somme», meint Laura, als wir nach der Probe zusammensitzen. Blendend gelaunt und rasend schnell sprechend, fasst sie mit «footage, 74 minutes» erstmal nur sehr knapp zusammen, was es mit ihrem besonderen Kinohit auf sich hat.

Im Vereinigten Königreich kennt praktisch jeder den dokumentarischen Stummfilm von einer der grauenhaftesten Schlachten des Ersten Weltkriegs, zu der im Juni 1916 zwei britische Kameramänner an die Somme im Norden Frankreichs geschickt wurden. Über hundert französische und britische Divisionen und fünfzig deutsche Divisionen standen einander gegenüber. Schon am ersten Tag verloren mehr als 19.000 Briten das Leben, unter ihnen viele Freiwillige. Laura hat zu diesen blutigen Ereignissen eine familiäre Beziehung, denn ihr Urgrossonkel Fred hat sie mit grossem Glück überlebt. «Er gehörte als 20-jähriger Bahrenträger zur 29. Division, die auch im Film vorkommt, und hat ein Kriegstagebuch geführt. Er starb, als ich zehn Jahre alt war.» Obwohl im Stummfilm, vor der Schlacht und in ihren ersten neun Tagen aufgenommen, auch Granattrichter und Tote zu sehen sind – neben fröhlich winkenden jungen Männern, die in der Sommersonne zur Front marschieren –, durfte er schon im selben Jahr im UK gezeigt werden und hielt den Rekord an den Kinokassen, bis ihm Star Wars 1977 den Rang ablief. 2016, hundert Jahre nach der Schlacht, bekam Laura Rossi den Auftrag, eine neue Musik zum Film zu schreiben, live vor der Leinwand aufzuführen, was dann hundert Orchester, Profis wie Amateure, mit grösstem Erfolg taten. Mit der Folge, dass Cathy Marston die besondere Sensibilität auffiel, mit der das komponiert ist.

«Atonement ist meine erste Ballettmusik, und ich möchte unbedingt eine weitere schreiben», meint Laura, die ungern auf die Stummfilme, Spielfilme und TV-Serien festgelegt wird, für die sie arbeitet. Genauso wichtig ist ihr, was sie «concert music» nennt, eigenständige Musik. Für das Ballett zu schreiben ist gewissermassen ein Weg zwischen beidem und «auf jeden Fall schwieriger als Kino, weil die Musik alles trägt». Wie ist sie da herangegangen? «Ich habe McEwans Buch gleich ein paar Mal gelesen, um da tief hineinzukommen, und dann gab es eine Menge von Zoom-Meetings mit Cathy, sie in Zürich, ich in London. Bei ihr ist Briony, die Hauptfigur, als Erwachsene keine Schriftstellerin, sondern Choreografin, aber die Charaktere bleiben dieselben.» Briony ist, im Jahr 1935, als Dreizehnjährige als erste am Tatort gewesen, als ihre Cousine vergewaltigt wurde, und hat wider besseres Wissen jenen Robbie bezichtigt, den ihre ältere Schwester Cecilia liebt. «Ich muss an die Emotionen herankommen, ehe ich die Musik schreibe, und dafür mache ich auch Zeichnungen, mit Bleistift, auch bei concert music, und dann gehe ich ganz altmodisch mit Notenpapier ans Klavier.» Gibt es bestimmte Muster, auf die sie dann zurückgreift? «Nein. Ich versuche immer, frei zu sein, mich nur von der Geschichte und den Charakteren inspirieren zu lassen. Mit jedem Projekt fängt man ganz von vorn an. Ich habe Versuche, die ich niemandem zeigen würde.» Sie lacht. Entwürfe zu verschiedenen Szenen hat sie, in digitale Orchesterklänge umgesetzt, an Cathy Marston geschickt, und in der Diskussion wuchs nach und nach zusammen, was nun die Philharmonia Zürich spielt. Wobei den Rollen auch Soloinstrumente zugeordnet sind – für Briony das Klavier, für Cecilia die Geige, für Robbie das Cello. Zwei dieser Instrumente beherrscht Laura selbst, Klavier und Geige, dazu Bassgitarre.

Damit kam sie überhaupt zur Musik – abgesehen davon, dass ihr italienischer Vater ein Profipianist war und ihre englische Mutter als Amateursängerin auf der Bühne stand. Als Bassistin und Pianistin spielte Laura, in Birmingham geboren und in der Grafschaft Devon aufgewachsen, schon zu Schulzeiten in einer Big Band mit, für die sie auch komponierte, als Geigerin sammelte sie Erfahrung in einem Jugendorchester. Da lag es nahe, an der Universität von Liverpool eine Mischung aus Pop, Jazz und Klassik zu studieren. Weil der Kurs nicht zustande kam, stieg sie ganz in die Klassik ein, Komposition und Orchestrierung inklusive, und leckte Blut, als es auch um Filmmusik ging. Am London College of Music hat sie das Fach bis zum Master Degree studiert; mit Shakespeare stieg sie in die Praxis ein: Für sieben frühe Stummfilme zu seinen Stücken, Silent Shakespeare, schrieb sie Musik für Klavier, Gitarre und Streichquartett. Man hört da mit Debussy auch einen der Komponisten heraus, von denen sie besonders viel über das Orchestrieren lernte: Bernstein und Strawinsky, aber auch Jazzarrangeure wie Count Basie und Nelson Riddle. Und sie bewundert Ennio Morricone. «Er hat eine einzigartige Fähigkeit, alle Emotionen einer Szene in seiner Musik direkt zusammenzuführen, da kann die Musik sogar für sich stehen.» Gibt es Standards, an die sich Filmkomponisten heute halten müssen? «Nein, es ist eine besonders gute Zeit, es gibt nicht den einen Trend. Es gibt grosse Orchesterpartituren, experimentelle kleine Besetzungen, elektronische Partituren, Pop und Jazz…» Künstliche Intelligenz als Konkurrenz fürchtet sie nicht. «Das wird sich auf Hintergrundmusik beschränken und es die Leute eher mehr schätzen lassen, wenn sie das Menschliche eines echten Komponisten fühlen, die Einzigartigkeit einer grossen Filmpartitur.»

Natürlich kommt es vor, dass TV-Regisseure enge Vorgaben machen. Aber für die Polizeiserie Redemption auf ITV konnte die Komponistin sogar einen Song verwenden, den ihre jetzt 16 Jahre alte Tochter Marcella schrieb. Derzeit arbeitet Laura an einem Stück für einen riesigen Kinderchor – 1000 Stimmen! – und zwei Orchester des Londoner Stadtteils Ealing, in dem sie mit ihrer Familie lebt. Kinderbuchautor Michael Rosen hat den Text geschrieben, in der Royal Albert Hall wird das Werk demnächst uraufgeführt. Und der Erste Weltkrieg lässt sie weiterhin nicht los: Nach der Musik zu Battle of the Somme und einer weiteren zum 1917er Stummfilm zur Schlacht an der Ancre ist jetzt die Schlacht von Arras an der Reihe, wieder ein Auftrag des Imperial War Museum in London.

In Atonement prägt der Krieg nur zeitweise das Geschehen. Da ist der Komponistin vor allem das private Drama nahegegangen. Was mit einem unschuldigen Sommertag beginnt, «ganz einfache Klaviermusik», führt bald «zu den dunkelsten Stellen, zur Vergewaltigung», und am Ende des Buchs wie des Balletts ist Briony – «wie meine Grossmutter», sagt Laura – eine alte, demente Frau, deren Erinnerungen sich verwirren. Welche komplexen Klänge sie dafür fand, das sei hier nicht verraten. Nur die Maxime der Komponistin: «Ich möchte dem Publikum helfen zu verstehen, was passiert.»

Das Gespräch führte Volker Hagedorn.
Dieser Artikel ist erschienen im MAG 111, Mai 2024.
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